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Mit der Angst vor dem Sterben und dem Tod umgehen
veröffentlicht 16.11.2023
von Hans Genthe, Multimediaredation
Nein, Sterben und Tod sind nicht nur mit Traurigkeit verknüpft. Als Klinikseelsorgerinnen haben Christiane Bindseil und ihre Kollegin Karin Lackus erfahren, wie bereichernd es für ihr Leben ist, sterbende Menschen zu begleiten.
Pfarrerin Christiane Bindseil begegnet in ihrer beruflichen Praxis unmittelbar Themen, denen viele am liebsten aus dem Weg gehen würden: Sterben und Tod. Als Klinikseelsorgerin begleitet sie unheilbar kranke und sterbende Menschen. Dabei wirkt sie alles andere als niedergeschlagen. Die lebensfrohe Frau erzählt, was die Erfahrungen mit dem Sterben bei ihr bewirkt haben: „Ich hoffe, dass ich dadurch etwas gelassener mit dem Leben umgehe. Ich stelle mir öfter die Frage: Was ist denn wirklich wichtig im Leben? Lohnt es wirklich, sich über dies oder das aufzuregen?“
Über ihre Erfahrungen mit Sterbenden erzählt sie mit ihrer Klinikseelsorge-Kollegin Karin Lackus in dem Buch „Mir geht es gut, ich sterbe gerade.“ Und tatsächlich bestätigt Pfarrerin Bindseil, dass es auch heitere Momente auf der Station gebe „Ja, wir lachen viel.“ In dem Buch erzählt sie von einen 60-jährigen Krebspatienten, der am Tag vor seinem Tod noch mit dem Arzt scherzte: „Es ist so schönes Wetter, morgen gehe ich wandern.“
„Niemand bereut, zu wenig geputzt zu haben“ – Impulse für das Leben
Sterbende Menschen hinterlassen auch eine Botschaft an diejenigen, die mitten im Leben stehen und täglich Entscheidungen treffen müssen. Pfarrerin Bindseil berichtet: „Ich hatte noch nie einen Patienten, der es bereut hätte, nicht genug geputzt oder nicht genug gearbeitet zu haben.“ Deshalb schlägt sie vor, sich in die Situation des Lebensendes hineinzuversetzen und sich zu überlegen: Wie würde ich aus dieser Perspektive die Dinge bewerten, die mich heute beschäftigen? „Das kann dazu führen, dass man schon jetzt die Weichen etwas anders stellt, andere Prioritäten im Leben setzt“, hat die Seelsorgerin erlebt.
epd-Video: Über das Sterben sprechen
Das hat auch Tim erfahren. Seine Mutter ist unheilbar krank und weiß, dass sie bald sterben wird. Sie hat sich gefragt: Was bleibt? Diese Frage hat Tim inspiriert. Wie - das zeigt das Video:
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Menschliche Beziehungen versuchen zu heilen
Christiane Bindseil hat in den Gesprächen auch erfahren, was Sterbende besonders beschäftigt: „Sehr oft geht es um Beziehungen.“ Dabei thematisieren die unheilbar kranken Menschen auch die Beziehungen, die nicht glücklich verlaufen seien. Seien es abgebrochene Kontakte zu den Kindern oder zu Geschwistern. „Da bleibt etwas schmerzhaft zurück“, beschreibt die Pfarrerin ihren Eindruck. Viele Patienten äußerten den Wunsch, noch einmal ihr Leben zu erzählen, ein stückweit Rechenschaft zu geben. Vor ihrem Tod werden einige aktiv, weil sie die zerbrochene Beziehung wieder heilen wollen.
„Es ist ein großes Geschenk, wenn es tatsächlich gelingt, sich am Ende des Lebens zu versöhnen“, so Christiane Bindseil. In dem Buch erzählt sie von einem Krebspatienten, der einen langjährigen Freund aus Schulzeiten hatte. Sie seien wie Brüder gewesen. Aber dann hatten sie sich wegen etwas Geld unversöhnlich zerstritten. Jahrzehnte später konnte der der Patient vom Krankenbett aus seinen Freund tatsächlich im Internet ausfindig machen. Dann wird im Buch erzählt: „Der alte neue Freund kam in der Folge fast jeden Tag, fast drei Wochen lang“, bis er der Patient starb.
Die Pfarrerin hat aber auch erlebt: „Leider Gottes gibt es auch Situationen, die nicht versöhnlich enden. Manchmal versucht der eine auf den anderen zuzugehen - und der andere kann es nicht annehmen.“ Dennoch könne es eine persönliche Entlastung sein, überhaupt den Versuch unternommen zu haben. Die Klinikseelsorgerin benennt die Herausforderung, vor der die Beteiligten dann stehen: „Es gilt zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die einfach nicht gut am Ende geworden sind. Dieser Wunsch kann dann aus der Hand gegeben und in andere Hände gelegt werden.“
Mit Ängsten umgehen
Auch wenn die Autorinnen mit ihrem Buch dazu beitragen möchten, das Thema „Sterben und Tod“ weiter aus der Tabuzone zu holen, wissen sie: Damit sind ernst zu nehmende Ängste verbunden.
Der Angst vor Schmerzen begegnen: Palliativmedizin einbeziehen
„Die Angst vor Schmerzen, ist oft das viel größere Problem als die eigentlichen Schmerzen“, hat Pfarrerin Bindseil erfahren. Sie erklärt: „Die Medizin hat Schmerzen in der letzten Phase des Lebens heute recht gut im Griff, da die Palliativmedizin sehr viele Fortschritte gemacht hat.“ Doch sie hat auch Situationen erlebt, in der die Patienten mit Schmerzen konfrontiert waren. Sie bleibt zuversichtlich: „Aber solche Fälle werden immer seltener.“ Sie empfiehlt, sich frühzeitig ein Krankenhaus oder eine Palliativstation zu suchen, in dem die Ärzte und Pflegekräfte kompetent Schmerzen behandeln können.
Der Angst vor dem Kontrollverlust begegnen: Grundvertrauen in das Leben stärken
Klinikseelsorgerin Bindseil hat bei ihren Patienten erlebt: „Wenn wir sterben, habe wir die Prozesse nicht in der Hand, die dann ablaufen. Auch wenn man sie medizinisch etwas beeinflussen kann, gibt es Dinge, die wir nicht mehr steuern können.“ Und dieser Kontrollverslust könne Angst auslösen. Diese Herausforderung erwarte die Sterbenden. Sie macht deutlich: „Das ist Sterben: die Dinge aus der Hand legen.“ Um sich etwas sicherer zu fühlen, könnten Patienten zuvor überlegen, wie sie die Situation gestalten möchten, wenn es soweit sei. Dabei sollte man allerdings nicht zu genaue Vorstellungen haben, da es oft anders komme als gedacht. Hilfreich sei vor allem ein Grundvertrauen in das Leben selbst. Nachdenklich sagt die Pfarrerin: „Es ist ein Geschenk, wenn es gelingt, mit dem Grundvertrauen am Lebensende anzukommen, dass es gut war und gut sein wird.“
Der Angst vor dem Tod begegnen
Glaube, dass nach dem Tod alles gut wird
Die Sonne genießen, den Partner küssen, die Kinder in den Arm nehmen – das alles ist vorbei, wenn der Tod eingetreten ist. Deshalb begegnet Pfarrerin Bindseil häufig Patienten, die unter der Angst vor dem Tod leiden. Dafür zeigt sie großes Verständnis: „Es ist völlig natürlich Angst zu haben, weil wir nicht wissen, was danach kommt. Das ist wie ein Sprung ins kalte Wasser.“ Ihre eigene protestantisch-christliche Tradition lasse sie dennoch zuversichtlich auf das Lebensende blicken: „Ich kann meine Arbeit nur tun, weil ich die tiefe Überzeugung habe, dass nach dem Tod alles gut wird, dass wir aufgefangen werden.“ Dabei sei nicht ausgeschlossen, auch mit dem Tod zu hadern, selbst Jesus am Kreuz habe seine Ungewissheit und Verzweiflung herausgeschrien. Aber damit war seine Geschichte noch nicht zu Ende, sie hat in die Auferstehung geführt.
Eine Beschreibung ihrer positive Erwartung hat die Pfarrerin im Offenbarungs-Text der Bibel entdeckt. Dort heißt es: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ (Offb 21,4) Wie das Leben nach dem Tod im Einzelnen aussehen werde, wisse sie auch nicht. „Vermutlich werden es Dinge sein, die wir mit den Sinnen, die wir jetzt haben, gar nicht erfassen können. Ich werde mich überraschen lassen“, so Christiane Bindseil. Dabei erinnert sie sich an eine bodenständige und tiefgläubige Stationshelferin, die ihr Herz auf der Zunge trage. Sie male mit den Patienten die tröstliche Jenseitsvorstellung aus dem Offenbarungs-Text ganz konkret aus. So phantasierte sie mit einem Sterbenskranken, ehemals begeisterten Fahrradfahrer, wie er die Wolken auf und ab rasen werde. „Jeder weiß, dass dies nur Bilder sind, aber sie drücken tiefes Vertrauen aus und helfen den Patienten“, hat die Pfarrerin beobachtet.
Buch-Tipp
Christiane Bindseil, Karin Lackus: Mir geht es gut, ich sterbe gerade. Neukirchen-Vluyn 2016