Mehr als 250 Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger aus der theologischen Wissenschaft und den Kirchen haben am Donnerstag (19. Oktober) mit einem öffentlichen Appell an die Bundesregierung effektivere Klimaschutzmaßnahmen und die Einhaltung der völkerrechtlich und verfassungsrechtlich zugesagten Klimaschutzziele gefordert. Unter den Erstunterzeichnenden ist auch der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung. Am Donnerstag stand unter anderem die erste Beratung über das sogenannte Klimaanpassungsgesetzt auf der Agenda des Bundestags, das helfen soll, die negativen Folgen des Klimawandels zu begrenzen.
Stimme in Verantwortung erheben
Die Unterzeichnenden des Appells wollen nach eigenen Angaben „die Stimme in Verantwortung für die vielen Menschen und Lebewesen erheben, die bereits jetzt und auch künftig unter den Folgen des Klimawandels leiden“. Extreme Großwetterereignisse und Überschreitung von bisherigen Messskalen im Jahr 2023 seien für sie Anlass, „die Zeichen der Zeit ernster zu nehmen und die Politik zu den gebotenen Maßnahmen zu drängen“.
Bildungsprogramm zum Klima gefordert
Die Initiative wird von mehr als 200 Professorinnen und Professoren sowie wissenschaftlichen Mitarbeitenden an Universitäten und von 20 Leitenden Geistlichen getragen. Sie fordern konkret ein angesichts der dramatischen Situation angemessenes Klimaschutzprogramm, die Einhaltung oder sogar Verschärfung des Klimaschutzgesetzes, eine parteiübergreifende Gesamtstrategie für Klimaschutzmaßnahmen und eine vom Bund eingeleitete Bildungsinitiative in allen Altersgruppen und Milieus zur Kommunikation des wissenschaftlichen Befunds und zur Akzeptanz der Klima-Maßnahmen.
Viele Beteiligte an Appell
Zu den Initiatorinnen und Initiatoren gehören neben dem hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Volker Jung unter andere der Mainzer Theologieprofessor Ruben Zimmermann, die Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden, Heike Springhart, der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland.
Der Appell im Wortlaut
Für eine menschen- und lebensfreundliche Klimaschutzpolitik
Appell von Verantwortungsträger*innen in theologischer Wissenschaft und Kirchen
für effektivere Regierungsmaßnahmen statt Entschärfung des Klimaschutzgesetzes
Die Klimakrise steuert auf immer neue Höhepunkte zu. Nach den verheerenden Waldbränden in Kanada gab es außergewöhnlich starke Regenfälle in Griechenland und Libyen, deren Wassermenge pro m² die des Ahrtals um ein Vielfaches übersteigt. Die Presse sprach von Katastrophen in einem „biblischen Ausmaß“.
Zur selben Zeit hat die Bundesregierung eine Novelle des Klimaschutzgesetzes auf den Weg gebracht (1. Lesung 22.09.2023). Insbesondere die Rücknahme der sektorspezifischen Reduktionspflichten ist eine elementare Schwächung der Verbindlichkeit. Das im Juni vorgelegte und am 04.10.2023 beschlossene Klimaschutzprogramm 2023, das die Maßnahmen zur Durchsetzung des 1,5-Grad-Ziels festlegen soll, wird von Klimaverbänden, Wissenschaftler*innen und sogar von dem von der Regierung selbst eingesetzten „Expertenrat für Klimafragen“ einhellig als unzureichend kritisiert. Alle sind sich einig: Die jetzt ergriffenen und geplanten Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um das Klimaziel bis 2030 (Begrenzung auf 440 Megatonnen CO2-Emission) zu erreichen. Zudem fehlt nach übereinstimmender Auffassung ein strategisches Gesamtkonzept.
Wir schließen uns dem Urteil von fast 80 Rechtswissenschaftler*innen an, dass Deutschland völker- und verfassungsrechtlich verpflichtet ist, die Klimaschutzziele von Paris 2015 zu erreichen und wirksame Maßnahmen zu deren Umsetzung zu beschließen.
Wir betrachten Erd- und Ökosysteme als Gottes bedrohte Schöpfung, in der wir nur ein Teil im großen Ganzen sind, aber für das wir zugleich eine besondere Verantwortung tragen. Wir dürfen die Ökosysteme nicht zerstören. Wir sehen auch die Millionen von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen, die schon jetzt unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden und die besonders im globalen Süden schutzlos den Klimaveränderungen ausgeliefert sind. Sie tragen die dramatischen Folgen unserer in der Konsequenz oft rücksichtslosen Lebens- und Wirtschaftsweise in den reichen Industriestaaten. Das Gottvertrauen, wie es in Bibel und Theologie reflektiert wird, befähigt und ermutigt uns, entschieden für die Grundüberzeugungen und Visionen unserer christlichen Tradition einzutreten und immer neu auf den Zusammenhang von „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ hinzuweisen. Eine Ethik planetarer Schöpfungsgerechtigkeit ist ein Überlebensprogramm für unsere Zivilisation – besonders im Hinblick auf künftige Generationen.
Deutschland hat eine große, historisch gewachsene Verantwortung und ist eines der einflussreichsten Länder der Erde, das in Produktion und Konsum einen hohen Anteil an der Emission von CO2 verursacht. Diese Verantwortung muss in einer parlamentarischen Demokratie von den gesetzgebenden Organen und der Regierung getragen und durch effektive Maßnahmen umgesetzt werden.
Als Verantwortungsträger*innen in Kirchen und Theologie können und wollen wir in unseren eigenen Institutionen notwendige Schritte gehen. Viele Universitäten, Landeskirchen, Bistümer und Institutionen im kirchlichen Feld haben bereits große Anstrengungen unternommen und eigene Klimaschutzregularien verabschiedet, die die CO2-Reduktion mit Nachdruck vorantreiben, obgleich auch hier noch viel zu tun bleibt.
Zugleich bedarf es gesetzlicher Weichenstellungen des Bundes, die einen effektiven gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel einleiten können. Wir nehmen hoffnungsvoll wahr, dass hier bereits einiges in die erforderliche Richtung gelenkt wurde, aber die bisherigen Maßnahmen sind nicht ausreichend.
Vor diesem Hintergrund fordern wir als Vertreter*innen von wissenschaftlicher Theologie und kirchlichen Institutionen die gewählten Parlamentarier*innen auf, eine parteiübergreifende Gesamtstrategie zu entwickeln, mit der die uns alle bedrohende Krise effektiv und sozialgerecht bewältigt werden kann. Wir fordern, eine umfassende Bildungsinitiative für alle Altersgruppen und Milieus der Bevölkerung zu starten, die den unstrittigen wissenschaftlichen Befund (siehe IPCC-Bericht) ehrlich kommuniziert und somit Mehrheiten für die erforderlichen Maßnahmen gewinnt. Die gesetzgebenden Organe des Bundes fordern wir dazu auf, das Klimaschutzgesetz nicht zu entschärfen, sondern konsequent umzusetzen und Schritt für Schritt auf dem Weg zur Klimaneutralität nachzujustieren. Wir ermutigen die Bundesregierung, ein effektives Klimaschutzprogramm mit ausreichenden Sofortmaßnahmen zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu beschließen, um damit einen wesentlichen Beitrag für den Erhalt eines schöpfungsfreundlichen Lebens auf dieser Erde zu leisten, in dem die Würde der Menschen geachtet und die Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen erhalten bleibt.