Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Ein Jugendlicher im Kapuzenhoodi

© Getty Images, Moore Media

Junge Leute möchten sich gesehen fühlen

Rechtsruck bei jungen Leuten: Handlungsbedarf und Lösungsansätze

veröffentlicht 09.12.2024

von Online-Redaktion der EKHN

Der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar 2025 sehen einige besorgt entgegen: Aktuelle Studien und die Ergebnisse der letzten Wahlen zeigen: Ein beunruhigender Teil der Jugend fühlt sich zu rechter Gesinnung hingezogen. Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Kirche und Gesellschaft sind jetzt gefordert, aktiv zu werden. Die Psychologin Bettina Schilling von der EKHN erklärt, wie wir gemeinsam handeln können.

Wahlergebnisse und Studien zeigen: Unter jungen Leuten befürwortet ein beträchtlicher Anteil rechtspopulistische oder rechtradikale Einstellungen. Die jüngste Shell-Studie zeigt, dass sich bereits jeder vierte männliche Jugendliche als tendenziell rechts einordnet. Der wachsende Zuspruch zu rechter Gesinnung in der Bevölkerung konzentriert sich keinesfalls nur auf ostdeutsche Bundesländer, das zeigt die Zunahme rechtsextremer Vorfälle in Hessen laut Spiegel von 35 (2023) auf 87 (2024) Fälle im jeweils ersten Halbjahr.

Zunehmende Perspektivlosigkeit und erhebliche psychische Belastungen

Aber nicht nur die politische Haltung kippt. Das Vertrauen junger Leute in die Zukunft hat abgenommen. Die jüngsten Jugendstudien zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der befragten Jugendlichen noch optimistisch ist, laut Studie „Jugend in Deutschland 2024“ sind das nur noch 55 Prozent der Befragten.

Wir können es uns nicht leisten, uns jetzt nicht verstärkt um Kinder und Jugendliche zu kümmern.

Diplom-Psychologin Bettina Schilling

Eine pessimistische Einstellung hat unter jungen Leuten in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Die Trend-Jugendstudie zeigt außerdem, dass viele jungen Leute von psychischen Belastungen betroffen sind. 51 Prozent der Befragten sind von Stress betroffen, unter Erschöpfung leiden 36 Prozent und unter Selbstzweifeln 33 Prozent.

Appell, sich um Kinder und Jugendliche verstärkt zu kümmern

Es besteht Handlungsbedarf. „Wir können es uns nicht leisten, uns jetzt nicht verstärkt um Kinder und Jugendliche zu kümmern“, betont Diplom-Psychologin Bettina Schilling, Studienleiterin für psychologische Beratung im Zentrum Seelsorge und Beratung der EKHN. Denn die Zukunft hänge davon ab, ob sie von bindungsstarken, gut sozialisierten verantwortungsbewussten, gut ausgebildeten und leistungsbereiten Menschen gestaltet wird – oder nicht. Auch ein nüchterner Blick auf die demographische Entwicklung verstärke die Notwendigkeit – so gebe es in Zukunft weniger Menschen, welche die Sozialsysteme unterstützen könnten. Dies gilt auch für die Integration zugewanderter und geflüchteter Jugendlicher.

Als Ursache für die zunehmende Zustimmung für rechtspopulistische Einstellungen sieht Psychologin Schilling in mehreren, unterschiedlichen Faktoren. Auch der Soziologe Alexander Yendell hatte in einem Interview mit „Dem Spiegel“ mehrere Aspekte im Blick. Bettina Schilling empfiehlt diese Lösungsansätze:

Gründe für rechtspopulistische und –extremistische Haltungen – und mögliche Maßnahmen

1. Lieblose Kindheit

Psychologische Beratung als Beitrag zur Demokratie

Unzufriedenheit und das Gefühl überlastet oder gesellschaftlich abgehängt zu sein, trägt zur Radikalisierung bei. Psychologische Beratungsstellen der Kirche und Diakonie tragen dazu bei, die Demokratie zu stabilisieren, indem sie Menschen aller Altersgruppen bei der Lösung ihrer Probleme helfen - schnell, niedrigschwellig, kompetent und mit einer demokratischen Grundhaltung. Damit wirken sie radikalisierenden Tendenzen entgegen und tragen zur Befriedung bei. Weitere kirchliche Angebote unterstützen friedliche Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, was nachweislich Vorurteile abbaut.
Zu den psychologischen Beratungs- und Seelsorgeangeboten

Laut dem Soziologen Alexander Yendell zeigen Studien, dass Kinder, die Kälte, Vernachlässigung oder Gewalt im Elternhaus erfahren haben, eher autoritäre und narzisstische Züge entwickeln. Bettina Schilling bestätigt, dass schwierige Beziehungen zu den Eltern negative Auswirkungen haben können.

Zudem führt der Fachkräftemangel an Kindertagesstätten und Schulen dazu, dass Kinder an vielen Stellen, die sie versorgen, einen Mangel erleben. Eine Folge ist: „Jugendliche fühlen sich missverstanden und wenig gesehen,“ sagt Schilling.

Diese Unsicherheit in Beziehungen kann später ein Nährboden für extremistische Haltungen werden, die vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Kinder und Jugendliche nehmen außerdem den Ärger der Eltern gegenüber anderen Gruppen wahr, was ihre eigenen Haltungen beeinflusst. Eine eigene politische Position bildet sich ab der Pubertät bis ins Erwachsenenalter schrittweise aus.

Mögliche Maßnahmen für mehr emotionale Stabilität und sichere Beziehungen:

2. Vielfältige gesellschaftliche Krisen und ihre Auswirkungen auf junge Menschen

Kriege, der Klimawandel, steigende Lebenshaltungskosten, und der Mangel an Lehrer:innen und Erzieher:innen haben massive Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. „Viele Menschen haben den Eindruck, dass einiges in unserem System gerade nicht gut funktioniert“, beobachtet Bettina Schilling. Jugendliche bemerken keine wirksamen Maßnahmen der Politik und fühlen sich oft im Stich gelassen. Es entsteht Unzufriedenheit, Überforderung und der Eindruck: „Wir sagen es immer lauter und niemand nimmt uns ernst.“

Die Aktionen von Fridays for Future sind in den Hintergrund getreten, was vor der Pandemie ein Entlastungskanal für junge Leute war. Jugendliche erleben Erwachsene, die kaum noch belastbar sind. „Junge Leute sind mit sozialer Ungerechtigkeit konfrontiert und haben beispielsweise den Eindruck, dass man mit einem Ausbildungsberuf kaum noch eine Familie ernähren kann“, so der Erfahrung der evangelischen Psychologin. Dieser Gedanke verstärkt die Haltung: „Wir sind selbst benachteiligt und müssen uns erstmal um uns kümmern.“ In dieser Situation bieten rechtspopulistische Gruppierungen scheinbar einfache Lösungen an, die auf einer Sündenbockmentalität basieren und Flüchtlinge als Ursache vieler Probleme ausmachen. Allerdings lassen sich Herausforderungen wie der Mangel an wichtigen Medikamenten, die unzureichende Ausstattung der Schulen, der Mangel an Kinderärzten, steigende Preise und die Unterbesetzung in Jugendämtern und Kindertagesstätten nicht durch Maßnahmen rechter Parteien wie der Abschiebung von Flüchtlingen lösen. Im Gegenteil: Der Mangel im Pflegebereich würde sogar verstärkt.
„Nicht alle jungen Menschen, die beispielsweise die AfD gewählt haben, stehen voll hinter deren Programm. Oft kennen sie es im Detail und seinen realen Auswirkungen gar nicht. Die Entscheidung an der Wahlurne ist oft ein Zeichen der Enttäuschung von anderen Politikern“ gibt Bettina Schilling zu bedenken.

Mögliche Maßnahmen im Umgang mit gesellschaftlichen Krisen:

3. Vertrauenskrise in der Pubertät – durch soziale Medien verstärkt

Deshalb kommen rechte Social-Media-Postings bei jungen Leuten so gut an

Junge Menschen nutzen fast ausschließlich Social Media zur Information. Die AfD ist hier präsenter als andere Parteien und erzeugt durch polarisierende, interaktive, stark visuelle und einfache Botschaften mehr Aufmerksamkeit. Solche Inhalte gehen viral, da sie emotionalisieren, viele Kommentare und Interaktionen hervorrufen - selbst durch diejenigen, die widersprechen. Um eine ähnliche Sichtbarkeit zu erreichten, reicht es nicht, ähnlich viel zu posten; andere Parteien müssen zusätzlich ihre Inhalte liken, speichern, teilen oder kommentieren lassen.
Die AfD spricht das Gefühl der Jugendlichen an, abgehängt und nicht wahrgenommen zu werden und bietet einfache Antworten. Im Gegensatz dazu wirken die Social-Media Auftritte anderer Politiker oft ungeschickt und verstärken das Gefühl des „nicht-verstanden-werdens“. Influencer, die sich zur AfD bekennen, verstärken diesen Effekt und beeinflussen die Haltung der Jugendlichen.

In ihrer Berufspraxis hat Psychologin Schilling bemerkt, dass junge Leute in den letzten Jahren unsicherer in sozialen Beziehungen geworden sind. Sie benennt die Ursachen: „Das liegt teilweise an schwierigen Beziehungen der Jugendlichen zu den Eltern, vor allem tragen aber die sozialen Medien dazu bei, dass junge Menschen wenig Vertrauen aufbauen können.“ Selbst Jugendliche, die Plattformen wie WhatsApp, TikTok oder Instagram seltener nutzen, kennen mindestens eine Person, die dort bloßgestellt und deren Vertrauen damit missbraucht wurde. Das heißt, dass ein Foto von anderen hochgeladen wurde, das den Abgebildeten peinlich war, oder ein Geheimnis ohne Zustimmung preisgegeben wurde. Selbst vermeintlich harmlose Fotos können für Jugendliche extrem belastend sein. „Jugendliche können den Gesichtsausdruck oder eine Klamotte unglaublich peinlich finden, wenn viele sie so sehen. Das kann emotional existenzgefährdend wirken,“ erläutert Schilling.

Dadurch hat sie festgestellt: „Das Vertrauen in Freundschaften hat sich verändert. Viele junge Menschen haben keine Vertrauensperson mehr und fragen sich oft, ob jemand etwas gegen sie verwenden könnte.“ Dadurch  kann der Status der „besten Freundin“ nach zwei Wochen wieder vorüber sein.
Diese Unsicherheit ist ein Nährboden für die einfachen, teilweise witzig verpackten Botschaften rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien, die bei den Ängsten der Jugendlichen ansetzen.

Viele junge Menschen glauben nicht, dass die Haltung rechter Gruppen zu Zuständen wie während des Nationalsozialismus führen könnte; diese Verbindung sehen sie nicht.

Mögliche Maßnahmen, um Vertrauen zu stärken und den angemessenen Umgang mit Social Media:

4. Chancenungleichheit gewachsen durch Bildungs-Nachzügler der Pandemie

„Jugendliche haben unter Corona am meisten abbekommen. Auch Schülerinnen und Schüler der 7.-10. Klasse waren im Coronawinter monatelang zu Hause. Das hat großen Schaden bei vielen jungen Leuten hinterlassen“, erklärt Psychologin Schilling. Die Folgen seien deshalb so dramatisch, weil für Jugendliche aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht mehr die Familie der Hauptbezugspunkt sei, sondern die Peer-Group – also die Gleichaltrigen und Gleichgesinnten. Hier können junge Leute ihr Selbstbild und Selbstverständnis entscheidend weiterentwickeln.

Zudem konnten einige Schülerinnen und Schüler den fehlenden Lernstoff durch den Schulausfall nicht aufholen oder es war ihnen nicht möglich, am digitalen Unterricht teilzunehmen. Diese Jahrgänge haben die Schule mit vielen Bildungslücken und geringeren sozialen Fähigkeiten verlassen – wofür sie aber nichts konnten. Mit diesen Voraussetzungen ist es schwer, eine qualifizierte Berufsausbildung zu starten.

Unabhängig von Corona und Migration ist die Bandbreite der Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zunehmend weiter auseinandergegangen. Einige können bei Eintritt in die Grundschule längst lesen und schreiben, während es für andere völliges Neuland ist. Diese Unterschiede setzen sich in der Schullaufbahn fort und erzeugen bei den Betroffenen das Gefühl, ins Hintertreffen zu geraten. Rechtspopulistische Gruppierungen nutzen diese Gefühle gezielt aus und setzen dem Gefühl sozial abgehängt zu sein deutschen Stolz entgegen.

Mögliche Maßnahmen zur Förderung

Social Media

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