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Gastbeitrag: Was bewegt Männer in Hessen-Nassau?
veröffentlicht 03.10.2024
von Jörg Wilhelm
Durch die Frauen- und Gleichstellungsbewegung haben sich die Erwartungen an Männer verändert. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf Männer heute aus? In einem Gastbeitrag gewährt der evangelische Männerberater Jörg Wilhelm einen Einblick.
Jörg Wilhelm gehört zum Gemeindepädagogischer Dienst im evangelischen Dekanat Groß-Gerau und arbeitet als Männerberater. Durch seine berufliche Praxis erfährt er unmittelbar, was Männer bewegt. In dem folgenden Gastbetrag skizziert er die Lage:
Wo steht „der Mann“ gerade?
von Jörg Wilhelm
„Den“ Mann gibt es nicht, weder in der evangelischen Kirche, noch in Deutschland und Europa und schon gar nicht weltweit! Die Männerwelt besteht heute (2024) aus einer Vielzahl von Rollen, Angeboten, Ideologien, ist also alles andere als ein monolithischer Block.
Die Gleichstellung von Mann und Frau in Bereichen wie zum Beispiel dem Wahlrecht, dem Recht, arbeiten zu gehen und auch ein evangelisches Pfarramt zu bekleiden sowie Konten zu eröffnen, ist hier in Deutschland noch nicht sehr alt. In diesem Zuge hat sich auch zunächst für die Gleichstellung schwuler Männer und später auch queerer Menschen insgesamt viel bewegt.
In Gesprächen mit Männern erlebe ich immer wieder, wie sich diese Entwicklungen auch auf sie auswirken: Sie finden sich am Arbeitsplatz in ungewohnten Situationen wieder, Familienmodelle verändern sich, und sie müssen lernen, mit selbstbewussten Frauen und queeren Menschen umzugehen.
„Männliche Identität muss positiv sein, divers und frei, ein anerkannter Teil einer Gemeinschaft aus Menschen und im Einklang mit der Schöpfung.“
Jörg Wilhelm
Die Vorstellungen von Gleichstellung variieren weltweit. In meinen Gesprächskreisen berichten Migranten und Männer aus anderen Religionen, dass diese Diskussion in ihren Heimatländern, wie z.B. in Westafrika, anders geführt wird. Oft reagieren Teilnehmer empört und erwarten, dass die deutsche Sichtweise überall gelten sollte. Ich plädiere dafür, auf Augenhöhe zu bleiben, Fragen zu stellen, zuzuhören und respektvoll Kritik zu äußern. Der Schlüssel zum interkulturellen Austausch in Deutschland ist, im Gespräch zu bleiben und offen für die Erfahrungen und Perspektiven des Gegenübers zu sein.
Vor dem Hintergrund der früheren, aber auch der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen möchte ich insbesondere vier wesentliche Stränge benennen, die aus meiner Sicht für die meisten Männer zutreffen:
- Neue Männer: Hier geht es um jene Männer, die die Emanzipation und Gleichberechtigung akzeptiert haben, Frauen auf Augenhöhe begegnen und für sich nach neuen Rollen und Selbstverständnissen suchen, jenseits des Patriarchats. Damit kommen sie unserem christlichen Menschenbild ziemlich nahe. Es geht davon aus, dass jeder Mensch eine von Gott verliehene Würde besitzt – also ein Mann genauso wie eine Frau. In der Männerarbeit können sich Männer darüber austauschen, was sie beschäftigt sowie neue spirituelle, männerspezifische Erfahrungen machen. Zudem zeigen wir Perspektiven auf, wenn sie vor Herausforderungen stehen. Beispielsweise wenn es darum geht, Grenzen zu setzen.
- Raushalten: Sehr viele Männer führen das Leben, wie sie es gewohnt sind. Sie sind meist in Beziehungen, in denen sie von Frauen noch unterstützt werden, jedoch eher nicht gefordert. Oft haben sie keine Probleme am Arbeitsplatz oder nehmen keine Konflikte zum Thema Gleichberechtigung wahr. Sie sind nicht rückwärtsgewandt, wollen aber auch eher wenig Veränderungen. Solange sich an deren Situation nichts wesentlich verändert, gibt es schlicht keinen Grund für sie, über Alternativen nachzudenken.
Bei uns in der Männerarbeit finden auch diese Männer viele Angebote zum Mitmachen und Impulse. In vertraulichen Gesprächen regen wir im Sinne der Nächstenliebe auch dazu an, sich in die Perspektive der Frau zu versetzen, empathische Fähigkeiten zu stärken. - Rollback: Es gibt Tendenzen unter Männern, aber auch unter Frauen (TradWifes in Social Media), denen die moderne Gesellschaft schlicht zu weit geht. Diese mit Konservatismus zu umschreiben, trifft nicht zu, denn es geht viel weiter: Es geht darum, Männern wieder den eindeutigen gesellschaftlichen Rang zu verschaffen, den sie früher mal hatten und Frauen entsprechend frühere Rollen zuzuordnen. Es ist unter anderem das Bild der klassischen Familie als Kernzelle des guten Staates, mit dem Vater als Oberhaupt und mit der Frau, die vor allem Mutter ist und den Haushalt führt. Wenn wir von der christlichen Idee ausgehen, dass vor Gott alle Menschen gleichwertig sind, besteht hier ein deutlicher Unterschied zum christlichen Menschenbild. In der Männerarbeit versuchen wir in Gesprächen die Ursachen und eigentlichen Bedürfnisse der Männer zu erkunden, zeigen aber auch die problematischen Folgen eines solchen Modells auf.
- Verzweiflung: Es gibt eine große Zahl von Männern, die sich abgehängt und bedroht fühlen durch eine moderne Gesellschaft, deren Selbstwert als Mann schwindet, die sich als Opfer fühlen, die mit neuen Rollen belastet sind - bei gleichzeitigem Anspruch an alte Rollen. Dieser Anspruch kann von ihnen selbst kommen, aber auch vom soziokulturellen Umfeld.
Für Männer, die sich überfordert fühlen, bietet der christliche Glaube viele stärkende Impulse in biblischen Geschichten – ich erinnere an David und Goliath. In der Männerarbeit ermutigen wir, die eigenen Stärken zu entdecken, Bedürfnisse ernst zu nehmen und Gefühle zu äußern. Unter rechten Männern gelten die Verzweifelten ebenso wie die neuen Männer als schwach, nicht als echte Männer. Wegen seiner Schüchternheit und Sprachschwierigkeiten hätten sie den jungen Mose vielleicht auch als schwachen Mann beurteilt – aber er hat ein ganzes Volk in die Freiheit geführt.
Aus meiner Sicht kann und darf „Männerarbeit“ in unserer heutigen Zeit nicht bedeuten, auf die Rückkehr des Vergangenen hinzuarbeiten! Gleichzeitig kann und darf „Männerarbeit“ auch nicht unterschlagen, dass Männer heutzutage enorm viele Probleme haben, die früher nicht benannt wurden, Stichwort „starker Mann“ und die mit Tabus behaftet waren. So sind Männer nicht nur überwiegend Gewalttäter, sondern laut polizeilichen Statistiken in der Gesamtheit aller Gewalttaten tatsächlich auch die Opfer von Gewalt, was freilich keine Form von Gewalt, egal gegen wen, rechtfertigt. Männer haben zudem sehr viele gesundheitlichen Risiken. Männer müssen Wege zu einer neuen Sexualität suchen, sich mit Anforderungen an eine faire Partnerschaft gewöhnen. Männer stehen oft in Konkurrenz zu Frauen zum Beispiel. überall dort, wo es früher mehr oder weniger reine Männerdomänen gab und nicht wenige Männer fühlen sich daher auch bedroht, haben Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst, sich eventuell „falsch“ zu verhalten, sehen eine scheinbare Bevorzugung von Frauen. Männer sind eben nicht das „starke Geschlecht“ schon gar nicht biologisch. Das, was früher einen Mann ausmachen sollte, verbunden mit entsprechenden Rollen, ist ins Wanken geraten und führt in der Tat zu vielen Verunsicherungen. Aber es ist der falsche Weg, als Antwort darauf einen Rollback zu fordern.
Mehrheitlich ist es Konsens in der evangelischen Männerarbeit, den Mann als ganzheitliches Wesen zu sehen, selbstbewusst und selbstbestimmt. Männern können und sollen für sich neue Rollen finden, die im Einklang stehen mit ihrer Natur, ihrer Biologie und auch ihrer Spiritualität. Männliche Identität muss positiv sein, divers und frei, ein anerkannter Teil einer Gemeinschaft aus Menschen und im Einklang mit der Schöpfung. Das ist nicht immer leicht in einer Gesellschaft, die einerseits klassische Männerrollen fordert, andererseits Männerprobleme tabuisiert. Nicht leichter wird es durch das Fehlen von Männerberatungsstellen und männlichen Gleichstellungsbeauftragten. Hier kann Kirche Lücken füllen und das wäre gut so.
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