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Albert Schweitzer: Urwaldarzt und Verfechter der Menschlichkeit
veröffentlicht 09.01.2025
von Martin Vorländer, Online-Redaktion der EKHN
Als Urwaldarzt und Friedensnobelpreisträger ist Albert Schweitzer bis heute weltberühmt. Sein Motto „Ehrfurcht vor dem Leben“ – das sowohl Menschen als auch Tiere einschließt – ist heute aktueller denn je. Es bildete eine der Grundlagen, von der aus Schweitzer vor den Gefahren des Nationalsozialismus warnte. Am 14. Januar 2025 jährt sich Schweitzers Geburtstag zum 150. Mal. Übrigens: Als Organist spielte er auch in der evangelischen Katharinenkirche in Oppenheim.
Glockengeläut erinnert an Liebe zum Leben
Ein Ereignis war prägend für Albert Schweitzers Haltung zur Tierwelt, den Mitgeschöpfen: An einem Sonntagmorgen haben zwei Jungen Steinschleudern gebastelt – einer von ihnen war Albert Schweitzer. „Komm, wir schießen Vögel im Weinberg“, sagt der eine zum anderen. Der kleine Albert schluckt. Doch sein Freund stürmt los. Soll sich Albert als Angsthase auslachen lassen? Er rennt hinterher. Mit Gewissensbissen geht der Junge neben seinem Kameraden in Habachtstellung. Er spannt seine Schleuder. Gleich wird ein Vogel getroffen zu Boden fallen. Da läuten die Glocken der Dorfkirche zum Gottesdienst. Der Albert Schweitzer springt auf und verscheucht die Vögel. „Die Glocken haben mir das Gebot ins Herz geläutet: 'Du sollst nicht töten.' Neben diesem Gebot verblassen alle anderen“, wird er als alter Mann sagen.
Typisch für Albert Schweitzer sind Bilder, die ihn in seinem Hospital in Westafrika zeigen: Buschiger Schnauzbart, Tropenhelm, helles Hemd und schwarze Fliege. Er hatte einst die Rangliste der am häufigsten genannten Vorbilder in Deutschland angeführt und das „Life Magazine“ hatte ihn 1947 zum „großartigsten Menschen der Welt“ erklärt. Diese Auszeichnung hat wahrscheinlich noch niemand vorausgeahnt, als Albert Schweitzer 1875 als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren wurde und in Günsbach aufwuchs, einem Dorf im Elsass. Allerdings hatte sich damals schon der kleine Albert beim Abendgebet gefragt: „Warum soll ich nur für Menschen beten?“ Wenn die Mutter das Licht gelöscht hatte, sprach er noch ein Zusatzgebet: „Lieber Gott, schütze und segne alles, was Odem hat. Bewahre es vor allem Übel und lass es ruhig schlafen.“
Berufung: anderen Menschen helfen
Aus dem Kind wurde ein Gelehrter und Musiker, der Theologie, Philosophie und Orgel studiert hatte. Albert Schweitzer gehörte zu den berühmte Organisten, die auf der Orgel in der Katharinenkirche im rheinhessischen Oppenheim gespielt haben. In Erinnerung daran wurde 2024 zum ersten Mal der "Albert-Schweitzer-Orgelpreis" in der Katharinenkirche verliehen.
Mit 21 Jahren fasste Albert Schweitzer einen Beschluss: Bis zu seinem 30. Geburtstag geht er seiner Begabung als Theologe und Musiker nach. Ab dann wollte er den „Weg des unmittelbaren Dienens“ einschlagen. Die Gelegenheit dazu flatterte ihm 1904 auf den Schreibtisch – ein Heft der Pariser Missionsgesellschaft. Es fehle an Menschen, die im damaligen Französisch-Äquatorial-Afrika helfen. Das verstand Schweitzer als seine Berufung.
Schweitzers theologische Impulse
Die Missionsgesellschaft wollte den Theologen zunächst nicht. Er hatte ihr mit seinem Buch über die Leben-Jesu-Forschung zu viel Aufruhr verursacht. Laut Alber Schweitzer erhält Jesus seine Glaubwürdigkeit nicht durch „historische Beweise“, sondern allein durch den ethischen Geist, der von ihm ausgeht und der einen jeden in seine Nachfolge ruft – so beschreibt die Schrift „Albert Schweitzer wissenswert“ des Albert-Schweitzer-Zentrums seine Gedanken.
„Es kann nicht das Reich Gottes in die Welt kommen, wenn nicht das Reich Gottes in unseren Herzen ist. “
Albert Schweitzer
Nach Albert Schweitzer geht es als Christ oder Christin um die „Hingebung an die Liebe Jesu“. Christsein müsse sich in tätiger Nächstenliebe bewähren, die aus der „Willensgemeinschaft mit Jesus“ erwächst. Schweitzers theologischer Kerngedanke lautet: Indem wir unser Leben im Sinne Jesu gestalten, werden wir zu Mitarbeitern am „Reich Gottes“.
Lambarene: Medizinische Hilfe für erkrankte Menschen im afrikanischen Gabun
Von 1905 bis 1913 studierte Schweitzer Medizin in Straßburg. Als Arzt konnte die Missionsgesellschaft ihn nicht ablehnen. Am Karfreitag 1913 stieg er mit seiner Frau Helene in Günsbach in den Zug. In Gabun, im Dschungel am Ogowe-Fluss, gründeten sie das Krankenhaus Lambarene. Ein Hühnerstall war das erste Behandlungszimmer. Nach und nach erweiterten Schweitzer und seine Frau das Hospital zu einem Dorf mit eigenen Häusern für Leprakranke. Aus heutiger Sicht werden allerdings auch einige Aussagen und Handlungen Schweitzers kritisch gesehen: So lehnte er beispielsweise die Unabhängigkeitsbewegungen der ursprünglichen Bevölkerung ab. Die damalige koloniale Vorstellungwelt war offenbar nicht ohne Einfluss auf ihn. Dennoch war es ihm ein leidenschaftliches Anliegen, die kranken Menschen rund um Lambarene medizinisch zu versorgen. Er schrieb: „Für den Arzt, welch ein Elend! Geschwüre, Aussatz, Schlafkrankheit mit ihren entsetzlichen Schmerzen.- ... Und wie dankbar sind sie, wenn man ihre Geschwüre verbindet!“ Das Geld dafür sammelte Schweitzer mit Orgelkonzerten, für die er nach Europa und in die USA reiste.
Heute wird das "Hôpital Albert Schweitzer" durch eine internationale Stiftung getragen - finanziert wird es durch den Staat Gabun sowie Hilfsvereinen aus Europa. Trotz des Baus eines staatlichen Regionalkrankenhauses in Lambarene spielt das "Hôpital Albert Schweitzer" eine wichtige Rolle, da sich dort auch das Medizinische Forschungszentrum Lambaréné befindet.
Erkenntnis einer Flussfahrt: Ehrfurcht vor dem Leben
In Afrika arbeitete Albert Schweitzer nicht nur als Arzt, sondern entwickelte als evangelischer Theologe auch sein ethisches Konzept der „Ehrfurcht vor dem Leben“ weiter. In der Zeit des Ersten Weltkriegs war Schweitzer auf dem Ogowe-Fluss unterwegs mit seiner Frau und dem Gabuner Mitarbeiter Joseph. Er erzählte, dass in einer Schlacht des Weltkriegs in Europa 30 000 Menschen getötet worden waren. Joseph konnte das nicht glauben: Wie können Menschen sich so viel Leid antun?
Schweitzer schaute auf die Landschaft am Fluss. Er sah das Zusammenspiel der Natur – Schmetterlinge, Nilpferde, Moskitos. „Wie im Bilderbuch“, dachte er. Und doch fressen sie und werden gefressen. Leben geschieht immer auf Kosten von anderen. Aber welche Kreatur nimmt sich mehr, als sie zum Leben braucht? Nur der Mensch. Was kann ihn davon abhalten? Und da waren sie, die vier Worte, die Schweitzer ein Leben lang begleiteten: Ehrfurcht vor dem Leben. Bei dieser Flussfahrt wurde ihm bewusst, dass alle Lebewesen genauso an ihrem Leben hingen wie er selbst und er schloss daraus: „Ethisch ist der Mensch nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt."
„In dieser Zeit, in der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt und so unheimlich wie noch nie die Welt beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt, dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut und Güte die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist.“
Albert Schweitzer in seinem „Wort an die Menschen“
Schweitzers ethischen Vorstellungen spiegelten sich auch in seiner politische Haltung wider. Ein Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte sich Albert Schweitzer in Deutschland aufgehalten. 1932 warnte Schweitzer anlässlich seiner Rede zum 100. Todestages Johann Wolfgang von Goethes vor den Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus. Dr. Gottfried Schüz, Vorsitzender Stiftung Deutsches-Albert-Schweitzer-Zentrum, erläutert, wie sich Albert Schweitzer eine Entwicklung zum Frieden vorstellt: Nach Schweitzer sei der Erzfeind jeder Menschlichkeit in der „Gedankenlosigkeit“ zu suchen. In erster Linie komme es deshalb auf ein „Verstehen“ an. Ein „Verstehen“ der Lebensrechte und Lebensbedürfnisse von Mitmenschen wie auch allen nichtmenschlichen Lebens sei nur über eine lebendige Begegnung, über eine Einfühlung in dessen jeweilige Lebenswelt zu erreichen.
Mit allen Geschöpfen verbunden
1951 sagte Albert Schweitzer in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche: „Es braucht keine andere Lebens- und Weltkenntnis mehr als die, dass alles, was ist, Leben ist. Und dass wir allem, was ist, als Leben, als einem höchsten unersetzlichen Wert, Ehrfurcht entgegenbringen müssen.“ Berühmt ist seine Formulierung: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Das verbindet für Schweitzer alle Geschöpfe. In dieser Hinsicht gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier, kein Einteilen in nützlich oder lästig, schön oder ekelig. „Ehrfurcht vor dem Leben schließt eine Unterscheidung zwischen höherwertigem und minderwertigem Leben aus“, so seine Überzeugung.
Politische Konsequenzen der „Ehrfucht vor dem Leben“: Protest gegen Atomwaffen
Ein Kollege, ebenfalls Mediziner, erzählte, dass man in Lambarene auf keine Ameisenstraße treten durfte. Von Gift gegen Ratten wollte Schweitzer nichts wissen. Man solle lieber Schutzzäune bauen. Morgens fütterte er seinen Pelikan Parzifal. Eine Katze saß mit an seinem Schreibtisch. Zur guten Nacht bekam ein Antilopen-Paar noch ein Leckerli. Bei Schweitzer war das nicht nur kuschelige Tierliebhaberei. Es entsprach seiner Lebenshaltung. Ehrfurcht vor dem Leben hat politische Konsequenzen. „Die Bombe“ war ein beherrschendes Thema nach dem Zweiten Weltkrieg. Schweitzer schloss sich dem Protest seines Freundes Albert Einstein gegen Atomwaffen an. 1952 erhielt er den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede warnte er vor der nuklearen Gefahr: „Nun erst tut sich das Grauenvolle unserer Existenz ganz vor uns auf (…) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein hätte kommen sollen (…), ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“
Massentierhaltung: Welche Rolle spielt jeder Einzelne?
Ehrfurcht vor dem Leben. Wie sieht sie heute aus? Zwiespältig. Der Hund darf im Bett schlafen, bekommt Hüftoperationen und Rollator. Immer mehr Menschen wollen sich neben ihrer Katze beerdigen lassen. Doch die meisten Tiere, die der Mensch sich hält, sind unsichtbar. Sie verschwinden in den Betrieben für Hühner, Schweine oder Kühe und dann im Schlachthof. Tierethiker nennen es moralisch schizophren, wie der Mensch Tiere liebt und sie gleichzeitig zum Ramschprodukt macht. Der Fingerzeig auf die Massentierhaltung hilft wenig. Jeder Einzelne ist Teil des Kreislaufs.
Artgerechtes Leben für Tiere mit dem eigenen Konsumverhalten ermöglichen
„Natürlich können Sie Vegetarier oder Veganer werden. Aber Leben ist immer Leben auf Kosten von anderen“, sagt Maren Heincke. Die Agrarwissenschaftlerin ist Referentin für Landwirtschaft der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Für Albert Schweitzer galt das Gebot: „Du sollst nicht quälen.“ Für Heincke beginnt das bei der Tierhaltung. Sie muss sich nach den Grundbedürfnissen des Schweins, der Kuh oder des Huhns richten.
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