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Kirche als Talentsucherin
veröffentlicht 30.05.2024
von Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN
Es gehört zu den besonders bemerkenswerten Eigenschaften reformatorischer Theologie, dass sie von ihren Anfängen an die Besinnung auf den Glauben als seelisches Phänomen zusammenbindet mit der Frage nach dem Glauben im Alltag. So kritisierte etwa Luther das damalige Ablasswesen nicht nur, weil es kein geeignetes Mittel zur Erlangung seelischen Friedens war und die Seele ganz im Gegenteil immer weiter in die Verzweiflung führte, sondern auch deswegen, weil das für die Ablassbriefe ausgegebene Geld dort fehlt, wo es tatsächlich benötigt wird: im Einsatz für die Sicherstellung eines eigenen selbständigen Lebens und die Versorgung der einem Menschen anvertrauten Personen und Güter.
Innerkirchlich und gesamtgesellschaftlich
Ein Leben aus Glauben ist für die reformatorische Theologie immer ein Lebensvollzug, der mehr umfasst als nur die Sorge um das Seelenheil. Es geht immer um das Heil des ganzen Menschen.
Dieser ganze Mensch lebt sein Leben auch als Christ nicht nur in kirchlichen Zusammenhängen, sondern mitten im Alltag der Welt – und der Gottesdienst und alle weiteren kirchlichen Institutionen sind ein Teil davon. Ein Christ engagiert sich in all diesen Bezügen im Horizont seines Verständnisses des christlichen Glaubens und lässt sich bei seinen Entscheidungen von diesem Glauben in allen Bereichen seines Lebens orientieren, nicht nur im Kirchenvorstand oder einer anderen kirchlichen Gruppe.
Martin Luther hat in zahlreichen Schriften umfassend und lebensnah davon gehandelt, wie der Glaube zum Segen auf allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern werden kann und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass ein Christ sich nur im kirchlichen Kontext als Christ gesellschaftlich einbringen könne.
„Die Talente eines Christen sind überall in der Gesellschaft gefragt, wo sie dazu beitragen können, das Miteinander menschlicher zu gestalten.“
Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN
Jeder und jede von uns hat individuelle Fähigkeiten und Talente, die uns unterscheiden und mit denen wir anderen helfen können, und wir sind zugleich alle davon abhängig, dass andere uns mit ihren Talenten und Fähigkeiten abhelfen, wo wir selbst an unsere Grenzen gelangen. Und das gilt in gleicher Weise auch für die Chancen und Grenzen, die uns unsere gesellschaftlichen und beruflichen Rollen schenken oder verwehren.
Wie all dies – die unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten aller Einzelnen - konstruktiv miteinander in Beziehung gesetzt werden kann, war auch in den Anfängen der Reformation eine wesentliche Frage. Die Antwort darauf erfolgte mit dem Konzept des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen.
Damit ist auch gemeint, dass die Entscheidung darüber, welchen Weg die evangelische Kirche einzuschlagen hat, auf allen ihren Handlungsfeldern in einer gemeinsamen Bemühung aller Christen erfolgen muss. Denn von ausnahmslos allen Christen gilt, dass sie fähig und berufen sind, zur Mitgestaltung des christlichen Lebens – nicht zuletzt auch im außerkirchlichen Bereich.
Der Tübinger Theologe Eilert Herms formuliert zur Begründung:
„Denn in einer kirchlichen Öffentlichkeit, in der das reformatorische Verständnis vom Geschehen der Offenbarung gilt, ist eben nicht nur (…) jeder Theologe in der Bildung einer eigenen Überzeugung begriffen, sondern jeder Christ“
Nur wo ein möglichst ungestörter und unverkürzter Austausch aller Christen über ihr jeweiliges Verständnis des christlichen Glaubens sichergestellt ist, kann vermieden werden, dass etwaige Missverständnisse oder Einseitigkeiten des Glaubensverständnisses die persönliche Glaubenspraxis oder gar das christliche Gesamtleben dominieren und die ganze Fülle des christlichen Glaubensgehaltes überdecken und verdunkeln.
Konfirmandenunterricht war eine erste Frucht
Der Konfirmandenunterricht war eine erste Frucht dieser reformatorischen Bemühung, insofern dieser nicht vorgibt, was zu glauben ist, sondern einübt in die gemeinsame Bemühung, als christliche Gemeinschaft ein immer reicheres und tieferes Verständnis des christlichen Glaubens zu entwickeln.
Die Professionalität der hauptamtlichen Theologinnen und Theologen besteht dann darin, dass sie ihre eigene Aneignung des Evangeliums so präsentieren, dass sich alle übrigen durch dieses Beispiel zu eigener Auslegung im Horizont der eigenen Lebenserfahrungen inspirieren lassen.
Nur in diesem Zusammenspiel kommt auch jenes produktiv kritische Potential zum Tragen, das in der Einsicht in das Priestertum aller Gläubigen enthalten ist. Nochmals in den Worten von Eilert Herms:
„Die Inhaber kirchlicher Ämter sind darauf verpflichtet und beschränkt, die Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung befreiender Glaubensgewissheit zu pflegen: die Überlieferung des Evangeliums und das vernünftige Gespräch über seinen Sinn und seine Wahrheit. Innerhalb dieses Rahmens ist für jedermann die Berufung auf die Autorität der ihm selbst evident gewordenen Wahrheit möglich und zu respektieren – auch gegen Entscheidungen des Amtes“.
Die Aufgabe des kirchlichen Amtes ist es, Talente zum Vorschein zu bringen, die vorher nur im Verborgenen schlummerten und über die der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin selbst vielleicht gar nicht verfügen, sondern darauf angewiesen sind, dass andere sie einbringen und daran nicht gehindert werden.
Genau dieses Prinzip gilt dann aber auch für das kirchliche Engagement im gesamtgesellschaftlichen Rahmen: die Kirche soll nicht nur sich selbst zum Leuchten bringen, sondern auch all die vielen Talente der übrigen Akteure, die zuweilen darauf warten, endlich entdeckt zu werden zum Wohle aller.
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