Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Aufarbeitung

© EKHN / Mohr

Aufarbeitung
  • Null Toleranz bei Gewalt

Aufarbeitung

veröffentlicht 29.04.2024

von Dr. Petra Knötzele und Anette Neff, M.A.

Gewalt erzeugt Gewalt – Aufarbeitung kann diesen Kreislauf durchbrechen.

Was meint Aufarbeitung?

Wir können leider nicht verändern, was in der Vergangenheit an Unrecht von Mitarbeitenden unserer Kirche oder in mit uns verbundenen Institutionen verübt wurde. Dieses Unrecht traf Menschen, die an ihrem Schicksal unschuldig waren. Heute wollen wir dafür sorgen, dass dieses Unrecht benannt wird, und wir wollen daran gemessen werden, wie wir mit den Betroffenen agieren.

Die Präambel des Gewaltpräventionsgesetz hält fest:

Aufarbeitung ermöglicht die Identifikation begünstigender Strukturen und die Ableitung und Umsetzung geeigneter präventiver Maßnahmen.

Dabei ist bei der Aufarbeitung konkreter Vorfälle zu beachten, dass Aufarbeitung nur durch die Beteiligung von Betroffenen auf allen Ebenen des Aufarbeitungsgeschehens gelingen kann. Das heißt, dass kein Schritt ohne Kenntnis und Zustimmung der / des direkt Betroffenen unternommen wird.

Einbeziehung des / der direkt Betroffenen bedeutet auch, dass Zeitvorgaben bzw. Zeitabläufe nicht alleine in der Hand der an Aufarbeitung interessierten Institution(en) liegen.

Was meint Aufarbeitung?

Aufarbeitung hat verschiedene Wortbedeutungen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass in der Psychologie Aufarbeitung als Teil der Bewältigung vergangener Ereignisse verstanden wird, die einen „Abdruck“ in der Seele hinterlassen haben.

In der Geschichtsforschung wird Vergangenheitsbewältigung so verstanden, dass dieser eine umfassende Aufarbeitung von Gewalttaten – auch gegen Widerstände von beteiligten Personen – vorausgeht.

Die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt hat insofern Anklänge zur Vergangenheitsbewältigung, als dass es um lang tabuisiertes Unrecht geht. Für dieses muss(te) erst eine allseits akzeptierte und gewaltfreie Terminologie entwickelt werden. Wichtig ist, dass sich Fälle sexualisierter Gewalt zumeist in einem  Rahmen (ob Familie, staatliche, freie oder kirchliche Institutionen) ereignen, der die Betroffenen einem Machtgefälle aussetzt.

Der Begriff Aufklärung wird manchmal synonym zu Aufarbeitung verwendet. Dieser meint jedoch eigentlich die Aufdeckung des Geschehens und ist daher nur ein Ausschnitt einer umfassenden Aufarbeitung.

Der idealtypische Ablauf von Aufarbeitung

  1. Aufnahme des Sachverhaltes: ZUHÖREN
  2. Klärung der Ereignisumstände: GLAUBEN, aber ordnen und einordnen
  3. Recherche nach früheren / späteren Vorfällen des/der Beschuldigten bzw. in der Institution
  4. deskriptive und analytische Einbeziehung des Umfeldes
  5. Zusammenstellung der Ergebnisse
  6. Verarbeitung der Ergebnisse in Präsentationsformen in Absprache mit Betroffenen

Aufarbeitung in der EKHN

Die Aufarbeitung von länger zurückliegendem Unrecht, das nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden kann, orientiert sich an der Maxime, Betroffenen ein positives Weiterleben zu erleichtern. Daher folgt auch das Ausmaß der „Aufarbeitungsarbeit“ den individuellen Bedürfnissen der/des Betroffenen.

Manche möchten eine Anerkennung erlittenen Unrechts erreichen, aber an keiner vertieften Recherche in die Umstände beteiligt werden. Dagegen möchten andere eine umfangreiche Aufklärung bewirken.

Den jeweiligen Ansätzen versucht die EKHN zu entsprechen durch die Möglichkeit von vertieften Zeitzeugengesprächen, der Unterstützung bei aktenbasierten Recherchen und durch die von ihr perspektivisch eingesetzte unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission. Zur Zeit wird auf EKD-Ebene eine Muster-Ordnung erstellt, für die das Votum des Beteiligungsforums (BeFo) noch aussteht.

Aufarbeitung auf EKD-Ebene und durch die Unabhängige Kommission

Anfang 2021 hat die von der EKD beauftragte Forschergruppe ForuM ihre Arbeit an einer Studie zum Thema „Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“ begonnen. Die Bearbeitung über fünf Unterthemen unter Beteiligung von Betroffenen ist nach drei Jahren abgeschlossen worden. Der Vertrag zwischen der EKD und der Forschungsgruppe ForuM sieht vor, dass die Forschenden frei sind, alle ihre Ergebnisse unter eigener Regie zu veröffentlichen. Eine Einflussnahme auf die Veröffentlichung durch die EKD ist ausgeschlossen. Am 25. Januar ist die Veröffentlichung erfolgt.

Der Aufarbeitungsansatz der Forschungsgruppe ist ein wissenschaftlicher unter Einbeziehung der Betroffenenperspektive. Er konzentriert sich auf die rot und orange eingefärbten Teile des Aufarbeitungsprozesses:

Die anderen Aspekte von Aufarbeitung sind und bleiben Aufgaben der jeweils betroffenen Institution, die von dieser angegangen werden muss.

Aufarbeitungsprojekte

Die Ansätze der verschiedenen Aufarbeitungsprojekte der EKHN sind aus den Fragen von Betroffenen der Heimerziehung vor 1975 und von Grenzüberschreitungen bis hin zu sexualisierter Gewalt entstanden. Sie reagieren auf das große Bedürfnis von Betroffenen mehr über die Umstände zu erfahren, durch die sie Opfer von Gewaltakten geworden sind. Diese opferzentrierte Aufarbeitung bezieht Betroffene in den Prozess auf Augenhöhe ein und gesteht ihnen ein Vetorecht bei der Umsetzung von Ergebnissen zu.

Im Bereich der sogenannten „Heimkinder“ fehlen vielen Betroffenen Informationen über ihre Lebensumstände in Kindheit und Jugend. Hier galt es verlässliche Daten zusammenzutragen und/oder bei der Recherche behilflich zu sein.

Allen Betroffenen wird neben anderen, eher medizinisch-psychotherapeutischen Maßnahmen angeboten, ein Zeitzeugengespräch zu führen, das ihre persönliche Geschichte dokumentiert. Manche Betroffene haben den entstandenen Text genutzt, um endlich mit ihren Kindern und Enkeln zu sprechen. Einige haben darüber hinaus umfangreiche Dokumentationen zusammengefügt und damit sozusagen ihr Leben wieder in die eigenen Hände bekommen. Für manche war es ein Abschluss ihrer Suche nach dem eigenen Ich, für andere ist es ein Bestandteil der andauernden Suche. 

Ausstellung zur Geschichte der Heimkinder zwischen 1945 und 1975

Auf den bis 2018 geführten Interviews und weiteren Recherchen fußt eine Ausstellung der EKHN zur Geschichte der Heimkinder zwischen 1945 und 1975. Dabei haben alle zitierten Betroffenen der Nutzung ausdrücklich zugestimmt. Einige wollten keine Veröffentlichung oder gerne eine in anonymisierter Form. Die Ausstellung ist als Wanderausstellung konzipiert und wurde bisher an über 20 Orten, auch über das Kirchengebiet hinaus, gezeigt. Sie ist weiterhin ausleihbar über:

Yvonne Poth

Sekretärin / Sachbearbeiterin Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der EKHN

Adresse anzeigen

Begleitpublikation

Die dazugehörende Begleitpublikation entstand auf Wunsch von Betroffenen. Sie wollten sich gerne intensiver mit den Texten, Zitaten und Bildern der Ausstellung auseinandersetzen, als das in einem Ausstellungsraum möglich ist. Hier konnten zudem weitergehende Informationen untergebracht werden.

Bibliographische Angaben
„Kinder in Heimen von 1945 bis 1975“, Hg. im Auftrag der Kirchenleitung der EKHN von Anette Neff in Verbindung mit Petra Knötzele und Peter Röder, Justus von Liebig Verlag, Darmstadt 2018, 72 Seiten, 14,80 €. (ISBN 978-3-87390-414-9). 

Die Wanderausstellung „Kinder in Heimen 1945 bis 1975“ der EKHN können Sie auf einer Sonderseite in 13 kurzen Videos anschauen.

Austausch mit Betroffenen

Bei verschiedenen Gelegenheiten haben Betroffene über ihre Erfahrungen persönlich berichtet. Zudem haben Beteiligte an den Aufarbeitungsprojekten deren Ergebnisse vorgestellt. Dies geschah und geschieht im Rahmen von Fachtagen und Vorträgen in Universitäten, Schulen, Ausbildungsstätten und Heimen, aber auch bei der Kirchenleitung, in der Kirchensynode, vor Mitarbeitenden der Kirchenverwaltung und bei interessierten Gemeinden.

Der Austausch mit Betroffenen und die Diskussion darüber, welche Themengebiete noch bearbeitet werden sollten, führten mittlerweile zur Erarbeitung von zwei Dokumentarfilmen zu diesem Themenbereich.

Problematische HEIMat: Ein Beispiel für eine Kindheit im Heim & die Suche nach dem eigenen Ich

Der knapp 40-minütigen Film ist als Lernimpuls gedacht. Im Zentrum dieses Films zur Aufarbeitung eines „Heimkind“-Schicksals steht exemplarisch ein einzelnes „Heimkind“. Es erhält “Gesicht” und “Stimme”, kommt selbst zu Wort. Der Film „Problematische HEIMat. Ein Beispiel für eine Kindheit im Heim und die Suche nach dem eigenen Ich" zeigt die Lebensgeschichte von Heinz-Dieter Schreyer und die Verarbeitung seiner Erfahrungen aus den Heimen, in denen er seit seiner Geburt zuhause war. Sein Ringen um einen eigenen Lebensweg und selbstbestimmte Beziehungen ist verknüpft mit Themen wie Selbstverständnis der Heimerziehung, pädagogischen Grundannahmen und -ansätzen, Menschenbild, Qualitätsansprüche und -notwendigkeiten.

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KOPF HERZ TISCH3 – Die psychiatrisierte Kindheit

Die Rolle der Medizin in der Fürsorgeerziehung von 1950 – 1975

Angeregt durch Berichte über Medikamentengaben zur Ruhigstellung und deren Auswirkungen beschäftigt sich der Film KOPF HERZ TISCH3 – Die psychiatrisierte Kindheit. Die Rolle der Medizin in der Fürsorgeerziehung von 1950 – 1975 aus dem Jahr 2018 mit der Frage nach der Rolle der Medizin bei der Heimerziehung. Die Wiesbadener Filmmacherin Sonja Toepfer lässt in ihrer knapp 80 Minuten langen Dokumentation neun Zeitzeugen zu Wort kommen. Ergänzt werden die Gespräche durch vier Experteninterviews. Toepfer ermöglicht durch die verschiedenen Perspektiven einen authentischen Einblick in die Denkweise in den Nachkriegsjahren.

Film aus dem Jahr 2018
Dateiformat: mp4-Datei
Größe: 4,56 GB
Länge: 77 min 14 sec

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