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GlaubensBewegt: Was macht Gott gerade mit uns?
veröffentlicht 11.12.2024
von Propst Oliver Albrecht
In Gesprächen mit Menschen und selbst beim Bibelstudium wird auch ein evangelischer Propst mit Glaubenszweifeln konfrontiert – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen. Oliver Albrecht, Propst der Propstei Rhein-Main, entfaltet seine Gedanken dazu in einem Gastbeitrag.
Liebe Geschwister!
Im Blick auf unsere Kirche und ihre – wie ich finde – sehr, sehr ernste Lage treibt mich die Frage um, was Gott eigentlich macht, genauer: was er mit uns gerade macht. Wo er eigentlich ist, sich versteckt, noch zu spüren ist. Wo er sich über uns freut und wo er sich entsetzt abwendet.
Ich weiß das natürlich alles nicht, so wenig wie Ihr vermutlich auch. Aber vielleicht ist das hier der richtige Ort, einige Minuten in diese Richtung zu denken. Geholfen haben mir bei meinem Nachdenken die alten Choräle, die ich abends mit meinem Akkordeon singe, und viele Texte aus dem Alten Testament.
Ich fange mit dem äußersten Gedanken an. Bei Hiob habe ich ihn gefunden, im Prediger Salomo und in den Psalmen: Was ist, wenn es gar keinen Gott gibt? Wenn kein Christus auferstanden ist von den Toten? Wenn alles ein schöner, aber ein Traum nur war? In 1. Kor.15 wagt Paulus in diese Richtung zu denken. Lügner wären wir dann und die elendsten unter den Menschen. Erstaunlich lange hätten wir uns dann gehalten. Vor 200 Jahren, in der Aufklärung, fing es an, dass man uns auf die Schliche kam, und was wir gerade erleben, wäre keine vorübergehende Krise, sondern der Einsturz eines 2000 Jahre alten Kartenhauses.
Ich möchte diese Denkmöglichkeit aushalten können. Wer mich kennt, weiß: Ich bin ein meist fröhlicher und oft sogar frommer Mensch. Aber wenn – des nachts zumeist – der Gedanke aufblitzt: „Vielleicht gibt es Gott nicht“, dann macht es mir mehr zu schaffen, mehr Angst, das kategorisch wegzudrücken, unter der Oberfläche zu halten, aus meinen Gedanken zu verdrängen.
Glaube ist für mich Liebe und Beziehung zu Gott. Und in der Liebe habe ich es doch auch schon erlebt, dass etwas kaputt und für immer vorbei war. Das sind alles zerbrechliche, kostbare Dinge. Geliebt von Gott und in tiefem Vertrauen zu ihm will ich diese Augenblicke aushalten, wo mir alles wegbricht und wie Sand durch die Finger rinnt. Ich will und vor allem: Ich kann nicht darüber wegreden, wegpredigen, wegglauben. Mich nicht immun machen, unverletzlich. Ich hab‘s versucht, geübt, gelernt, die schönen Worte und blumigen Metaphern, die richtigen Meinungen und das gesellschaftlich sinnvolle Engagement: Kirche ohne Gott weiterzumachen; von Dostojewski bis Hans-Dieter Hüsch gibt es dazu viele traurige Ideen. Ich wäre dann aber raus.
Im 5. Buch Mose und bei den Propheten vor dem Exil in Babylon, vor allem Micha, Amos und Hosea, habe ich den immer noch schweren, aber entscheidend tröstlichen Gedanken gefunden: Es gibt Gott, noch. Schon immer und in Ewigkeit gibt es ihn. Aber nicht mehr für uns. Hätte er sich nur abgewandt von uns, würden wir wie Mose immerhin noch seinen Rücken sehen. Aber er ist einfach komplett weg, woanders, entschwunden.
Im Alten Testament ist das die Konsequenz, dass sein Volk, seine Leute richtig schlimme und falsche Dinge getan haben. Und gleichzeitig weiter Gottesdienste feiern und sich religiös fühlen. Aber alles zum leeren, falschen, verlogenen Betrieb geworden ist. Mein Problem gerade: Ich sehe das gar nicht, was wir falsch machen. Ich sehe im Gegenteil so viel, was wir gut und richtig und richtig gut machen. Meine Vermutung: Ich sehe nicht klar, weil ich zu viel mit den ganz, ganz wenigen Menschen zusammen bin, die das auch so sehen.
Was man sehen kann und will, ist schon das große Thema alttestamentlicher Prophetie.
Wenn ich mit meinen Töchtern und ihren Freunden spreche, erschrecke ich dann: Was für wunderbare, engagierte junge Menschen gerade austreten, weil sie uns bestenfalls irrelevant finden. Was für eine Wut auch auf die evangelische Kirche neulich am Stammtisch nach dem Training, auf unsere ganzen Privilegien und Begünstigungen, Gehälter und Immobilien. Und dass wir ein Thema mit sexualisierter Gewalt haben, hat spätestens die ForuM-Studie uns allen gezeigt.
Ich bin schon jemand, der dann auf den Tisch haut und ’ne Runde schmeißt und erklärt, dass ja alles zu erklären ist. Aber es fällt mir immer schwerer.
Und dann, wieder nachts: Ja, wir haben brutal an Macht und Bedeutung verloren. Aber wir sind im Innersten immer noch römische Reichskirche, landesherrliches Kirchenregiment, preußisches Konsistorium. Wie eine deutsche Behörde planen wir den Reformprozess gerade ziemlich grundsätzlich und groß angelegt – in der vielleicht ja irrigen – Annahme, uns würde es in 30 Jahren noch geben.
Die letzten Könige des Nordreiches im 8. und des Südreiches im 6. Jahrhundert versuchten den raschen Macht- und Bedeutungsverlust durch Gebietsabtretungen und Vasallenverträge so zu organisieren, dass sie möglichst wenig grundsätzlich in der Organisation ihrer Herrschaftssysteme ändern mussten. Doch plötzlich kamen andere Probleme auf. Die alten, radikalen – Elia und Elisa zuerst und dann die erwähnten Hosea, Amos und Micha – hatten brutal die vollkommene Abwendung Gottes gepredigt.
Die neuen – Jesaja, Jeremia und der junge Ezechiel – sprachen: Gott wird zurückkommen. Aber anders, als man sich das so wünschen könnte. Er wird Zerstörung geben und Verlust von allem, was vertraut und Heimat war. Aber anders – das sieht doch jeder ein – anders kann es nicht weitergehen.
Das wäre für mich die immer noch schwere, aber vielleicht dann doch zu erhoffende dritte Art und Weise, wie Gott bei seinen Leuten ist, jetzt bei unserer Kirche. Dass Gott uns in babylonische Gefangenschaft führt, uns das alles jetzt bevorsteht. Dass wir losziehen müssen, loslassen und so, wie es sich gehört, vor Gott mit leeren Händen dastehen.
In Israel wurden in dieser Zeit die Geschichten ganz vom Anfang aufgeschrieben. Von Hagar, Sara und Abraham. Von Rebekka und Isaak, von Lea, Rahel und Jakob. Vom Leben in der Wüste und unter freiem Himmel als Zeltnomaden. Das älteste Glaubensbekenntnis erinnert im 5. Buch Mose und beginnt: „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater…“
Unsere alten Geschichten sind schon aufgeschrieben. Ich lese sie neu: von Jesus und seinen Wanderpredigern. Wandernd gepredigt haben wir doch noch jahrhundertelang. Von Hausgemeinschaften und Gütergemeinschaften und neuen Lebensformen, in Christus zusammenleben jeden Tag – „in die Kirche gegangen“ ist doch jahrhundertelang kein Mensch. Von der Erfindung der Diakonie lese ich und von Klöstern, draußen vor den Toren der Stadt. –
Mein Gott, ich könnte heulen um alles, was gerade kaputtgeht. Was Du uns aus den Händen schlägst. So allmählich aber kommt ängstliche Vorfreude auf, auf neue, urvertraute Zeiten.
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