© Volker Rahn
Von Vielfalt, Fukushima und der Ökumene: Kirchenpräsident Volker Jung zieht Bilanz nach 16 Jahren im Amt
veröffentlicht 27.11.2024
von Caroline Schröder
Die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahrzehnte reichen von der Finanzkrise und dem Atomunglück in Fukushima über Migrationswellen und den Klimawandel bis hin zu einer weltweiten Pandemie und Kriegen in Europa und Nahost. Im selben Zeitraum begann die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten, feierte 500 Jahre Reformation und brachte mehr Vielfalt in den Familienbegriff – begleitet von Strukturreformen. In seinem letzten Bericht vor der EKHN-Synode zieht Kirchenpräsident Volker Jung Bilanz – und erntet ausgiebigen stehenden Applaus der Synodalen.
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hat am Mittwoch die aktuelle Rolle der Kirchen für die Stärkung der Demokratie und den Zusammenhalt der Gesellschaft herausgehoben. „Wir brauchen eine Kirche, an der zu erkennen ist, dass der Glaube Herzen berührt, tröstet, stärkt und bewegt“, sagte er in seinem letzten Bericht vor der in Frankfurt am Main tagenden Kirchensynode. Es sei wichtig, dass Kirche Menschen bewege, „füreinander und für Menschen in Not da zu sein.“
Hilfe für Geflüchtete als biblische Tradition war Schwerpunkt der EKHN in seiner Amtszeit
Damit verband Jung auch die Themen Migration und Integration: „Die Synode hat immer wieder aktuelle Herausforderungen aufgegriffen. Sie hat sich dabei für eine Flüchtlingspolitik eingesetzt, die sich an den Menschenrechten und der Menschenwürde orientiert.“ Das sei daraus gespeist, dass die biblische Tradition ihnen das Schicksal geflüchteter Menschen besonders ans Herz lege. Dem stimmten viele Menschen in der EKHN zu, andere kritisierten dies „scharf, bisweilen hasserfüllt.“
Eng damit verknüpft sei auch die Haltung der Kirche, sich gegen jede Form von Diskriminierung zu stellen. Jung fordert auf, aufmerksam und entschieden zu bleiben: „Jüdische Menschen brauchen unsere Solidarität – gerade jetzt, wo der zunehmende Antisemitismus dazu führt, dass Juden und Jüdinnen darüber nachdenken, ob sie in Deutschland wirklich noch sicher sind. Das ist furchtbar und beschämend. Es gilt aber auch, sich gegen jede Form des Hasses gegen muslimische Menschen oder andere Menschengruppen zu stellen.“ Auch die EKHN befinde sich auf dem Weg, rassismuskritischer und rassismusfreier zu werden.
Ein besonderes Anliegen war Jung, für Chancengleichheit und einen erweiterten Familienbegriff einzutreten: „Indem wir die Segnung und dann Trauung gleichgeschlechtlicher Paare ermöglicht, dem Thema Transsexualität Raum gegeben und in der Synode ein Schuldbekenntnis gegenüber queeren Menschen verabschiedet haben, haben wir hier einen Beitrag geleistet. Und wir haben gezeigt, dass wir lernfähig sind und besser verstehen, was es bedeutet, an die Liebe Gottes zu allen Menschen zu glauben.“
Reformen sollen die EKHN näher an Bedürfnisse der Menschen bringen
„Die EKHN versucht seit den 1970er Jahren, gesellschaftliche Entwicklungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren“, erklärte Volker Jung. Dabei sei beobachtet worden, dass „unsere Gesellschaft sich in Prozessen der Säkularisierung, Individualisierung und Deinstitutionalisierung“ befinde. Das ist nach Jung durchaus auch positiv zu würdigen, weil es Ausdruck dafür sei, dass Menschen ihr Leben „mündig und in eigener Verantwortung“ gestalten.
„Als Konsequenz haben wir die Angebote in den Gemeinden und in der Gesamtkirche vielfältiger gemacht. Das wurde dadurch möglich, dass wir in Strukturreformen mehr Gestaltungsfreiraum in die Regionen gegeben haben, und das setzt der aktuelle Transformationsprozess mit Blick auf die Nachbarschaftsräume fort“, beschrieb Jung die Lehren aus den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen.
Kirche will geistliche Heimat sein – und muss sich dafür weiterentwickeln
Jung fuhr fort: „Es geht vor allem darum, Kirche so zu gestalten, dass Menschen darin gestärkt werden, ihren Glauben so zu leben, wie sie Glauben leben wollen. Deshalb war und ist es unser Ziel, handlungsfähig zu bleiben und verantwortlich mit unseren Möglichkeiten und Ressourcen umzugehen – mit Geld und Gut und vor allem mit den Menschen, die in unserer Kirche und für unsere Kirche arbeiten – haupt- und ehrenamtlich.“
In Zukunft sei es deshalb wichtig, die EKHN weiterzuentwickeln. „Dazu gehört, dass wir die digitalen Möglichkeiten in Kommunikation und Verwaltung konsequenter nutzen und auch mit unseren Nachbarkirchen und innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschland entschlossener kooperieren. Wir sollten beispielsweise den Weg der direkten Kommunikation mit Mitgliedern und allen, die den Kontakt wollen, weiterentwickeln“, so Jung.
Aufarbeitung sexualisierter Gewalt seit 2010 präsent
„Im Frühjahr 2010 sind die Gewalterfahrungen, vor allem von Kindern und Jugendlichen, aber nicht nur von diesen, besonders in den Blick geraten. Das war sehr schmerzlich, aber extrem wichtig“, erinnerte sich Jung. „Wir haben versucht, den Menschen, die sich in der Folge bei uns gemeldet haben, gerecht zu werden. Dies ist uns bestimmt nicht in allen Fällen so gelungen, wie es unser Anspruch war. Auch hier haben wir in den vergangenen 15 Jahren viel gelernt und lernen wir immer noch. Wir arbeiten weiter intensiv daran, Menschen zu begleiten, sofern sie das wünschen, und wir arbeiten an einer Kulturveränderung, die dazu beiträgt, dass Kirche und diakonische Einrichtungen sichere Orte für Menschen sind.“
Er bedauere rückblickend, den Fragen nach systemischen Risiken nicht früher mehr Raum gegeben zu haben, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Er sei dankbar, dass neben der Anerkennungskommission, die bereits seit zwei Jahren arbeitet, ab März 2025 eine Unabhängige Aufarbeitungskommission ihre Arbeit aufnehmen wird.
Ausblick: Wo die Kirche gefordert ist
Zum Schluss seines Berichts richtet Jung den Blick in die Zukunft und nennt drei Punkte, auf die es ankomme: „Zunächst geht es darum, die Frage nach Gott wach zu halten und sie auch neu zu wecken. Das gelingt nicht, indem beklagt wird, dass Religiosität schwindet. Es braucht Menschen, es braucht eine Kirche, die ihren Glauben überzeugt und überzeugend lebt.“
Zweitens gelte es, die Demokratie zu stärken. Jung: „Sie ist die Staatsform, die allen Menschen gleiche Rechte einräumt und zu einem Miteinander verpflichtet. Damit geht einher, für die unantastbare Würde aller Menschen einzutreten. Und drittens kommt es darauf an, dass Menschen Kirche als stärkende Gemeinschaft erfahren – als Gemeinschaft, die ein sicherer Ort für alle ist; als Gemeinschaft, in der alle Menschen willkommen sind.“
Volker Jung ist offiziell bis zum 31. Dezember 2024 im Amt. Am 26. Januar 2025 findet die offizielle Übergabe an seine Nachfolgerin Christiane Tietz statt, die ab 1. Februar das Amt innehaben wird.