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Grundartikel der EKHN bezeugt die bleibende Erwählung der Juden
veröffentlicht 10.10.2023
von Online-Redaktion der EKHN / Martin Reinel
Die EKHN stellt sich gegen Antijudaismus und Antisemitismus. Der Grundartikel ihrer Kirchenordnung bekennt Blindheit und Schuld. Aber Gottes Bund mit Jüdinnen und Juden bleibt bestehen. Die Evangelische Kirche setzt sich für eine Neuorientierung des christlichen Verhältnisses zum Judentum ein und fördert den Dialog.
Zur Umkehr gerufen
Das Bekenntnis zur Treue Gottes gegenüber Jüdinnen und Juden gehört zum Kern der Glaubensaussagen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Die Synode der EKHN, also ihr höchstes Gremium, hielt diese Position im Jahr 1991 ausdrücklich fest, indem sie damals eine Änderung und Ergänzung des Grundartikels der EKHN beschloss. Der in etwa mit einer Präambel vergleichbare Gesetzestext wurde um den Zusatz erweitert:
„Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die Kirche) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“
Meilenstein der Theologiegeschichte
Mit diesem Satz in ihrem Kirchengesetz hält die EKHN fest, dass Antijudaismus und Antisemitismus keinerlei theologische Grundlage haben und nach der Shoa und dem Holocaust eine Neuorientierung des christlichen Verhältnisses zum Judentum nötig ist. In Fachkreisen gilt die Entscheidung der EKHN als Meilenstein der Theologiegeschichte. Auf die Grundordnung mit dem 1991 erweiterten Abschnitt werden alle Pfarrer:innen der EKHN ordiniert.
Zahlreichen Gesellschaften und Initiativen engagieren sich auf vielen Ebenen für die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die Erkenntnisse aus dem jüdisch-christlichen Gespräch sind von besonderer Bedeutung, etwa weil sie klar und deutlich den Verzicht der evangelischen Kirchen auf jegliche Judenmission zum Ausdruck bringen. In der EKHN engagiert sich besonders der Evangelische Arbeitskreis "ImDialog" für das christlich-jüdische Gespräch. Er fördert die theologische Arbeit im Horizont des jüdisch-christlichen Dialoges und seine praktische Umsetzung in Kirche, Gemeinde und Unterricht.
Historische Verantwortung und Paradigmenwechel
Bei einer Festveranstaltung 25 Jahre nach der Grundartikeländerung lobte 2016 der damalige hessische Kultusminister Alexander Lorz die hessen-nassauische Kirche für ihr Engagement im Gespräch mit dem Judentum. „Der christlich-jüdische Dialog ist offenkundig nicht ‚irgendein‘ interreligiöser Dialog“, sagte er. Aufgrund der „historischen Verantwortung und der historischen Schuld“ sei es wichtig, den christlich-jüdischen Dialog auf eine überregionale und sogar internationale Ebene zu führen.
Der damalige wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, Doron Kiesel, bezeichnete die Erweiterung des Grundartikels in der EKHN als „Paradigmenwechsel im protestantisch-jüdischen Verhältnis“. Die Anerkennung der bleibenden Erwählung der Juden sei „ein klarer Bruch mit der sogenannten „Enterbungsthese, die davon ausgeht, dass Gottes Zuwendung von den Juden auf die Christen übergeht“. Sie akzeptiere zudem, „dass Jesus Christus als Jude aufgewachsen ist und als Jude gewirkt hat“. Daraus folge eine „substantielle und irreversible Verbindung des Christentums zu seinen jüdischen Wurzeln“.
EKHN will den Dialog
Für die EKHN ist die Stärkung des Dialogs mit dem Judentum eine bleibende Aufgabe. Denn, so der ehemalige Präses der Synode Ulrich Oelschläger, „das Zusammenleben von Christen und Juden in unserer Geschichte zeigt zarte Knospen, aber immer wieder auch Verletzung und Zerstörung“. Umso wichtiger sei eine intensive Auseinandersetzung mit den Traditionen beider Glaubensrichtungen.
Sehr deutlich hat sich die hessen-nassauische Kirche Jahr 2014 auch von den judenfeindlichen Schriften Martin Luthers distanziert. Die Haltung des Reformators zum zeitgenössischen Judentum des 16. Jahrhunderts sei nicht vereinbar mit dem heutigen Bekenntnis, erklärte die EKHN. Die Aussagen der sogenannten „Judenschriften“ aus Luthers Alterswerk stehen im Widerspruch zum Grundartikel der Kirchenordnung und der dort festgestellten „bleibenden Erwählung der Juden“.
Hintergrund: biblisch begründeter Antisemitismus
Antisemitismus und Antijudaismus haben sich Jahrhunderte lang biblischer und kirchlicher Argumente bedient. Tatsächlich sind antijudaistische Haltungen in der Bibel durchaus zu finden, etwa im Johannesevangelium. Sie kommen auch in späten Schriften des Reformators Martin Luther vor. In ihnen spiegelt sich aber das ungeklärte Verhältnis zweier Religionen wider, die denselben Gott bekennen und sich weithin auf die gleichen Glaubenstexte der jüdischen Bibel - für Christ:innen das Alte Testament - beziehen. Beide Religionen deuten zugleich Jesus Christus unterschiedlich.
Dieses spannungsreiche Mit- und Gegeneinander hat über Jahrhunderte hinweg zu Verfolgungen und Pogromen der christlichen Mehrheiten an den jüdischen Minderheiten geführt. Ihre furchtbarste Ausprägung fanden sie im Völkermord des deutschen NS-Staates an den Jüdinnen und Juden in Europa. Die Frage ist daher unabwendbar, wie die christliche Theologie sicherstellen kann, dass derartiges nie wieder eine theologische Legitimation haben kann und wie sich die Theologie selbst verändern muss. Dem hat sich die EKHN gestellt. Ihre Entscheidung war, nach langer und intensiver Debatte, im Jahr 1991 den Grundartikel der EKHN zu ändern und sich zur bleibenden Erwählung der Juden zu bekennen.
ImDialog Ev. Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen u. Nassau