Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Eine Frau stützt ihren Kopf im Büro auf ihre Hände ab, auf ihren geschlossenen Augen kleben Post-It-Zettel mit aufgemalten wachen, offenen Augen

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Bei chronischer Erschöpfung haben Betroffene reicht die Energie nicht mehr für viele körperliche und geistige Aktivitäten aus - das kollidiert mit Ansprüchen der Leistungsgesellschaft

Long-Covid: Was hilft bei chronischer Erschöpfung?

veröffentlicht 14.05.2024

von Rita Haering

Weit über hunderttausend Menschen leiden unter dem Myalgischen Enzephalomyelitis (ME) - also des Chronisches Erschöpfungssyndroms in Deutschland. Auch Menschen, die von Long- oder Post-Covid betroffen sind, kämpfen oft mit anhaltender Müdigkeit. Wir haben einen Chefarzt und eine Klinikseelsorgerin nach ihren Empfehlungen gefragt.

Die Lebensqualität der Menschen, die von Long-Covid betroffen sind, ist häufig durch Symptome wie ErschöpfungMüdigkeit und Konzentrationsschwächen beeinträchtig. Diese Langzeitfolgen stehen im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Erwartungen an Leistungsfähigkeit, was zu Frustration führen kann. Experten wie Klinikseelsorgerin Jutta Reimers-Gruhn und Dr. Martin Grabe, Chefarzt in der Klinik Hohemark, teilen ihre Empfehlungen für den Umgang mit Long-Covid.

Genesung von Long-Covid benötigt Zeit

Eine Studie in “Nature Reviews Microbiology” (2023) zeigt, dass etwa zehn Prozent der Infizierten Long-Covid entwickeln. Das heißt für viele Betroffenen, dass alltägliche Aufgaben zu einer enormen Belastung werden können. Beispielsweise empfinden sie es als eine große Anstrengung, die Treppe in den zweiten Stock hochzugehen. Pfarrerin Jutta Reimers-Gruhn vom Krankenhaus Nordwest in Frankfurt am Main unterstützt Patienten, die mit den Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion zu kämpfen haben. Dabei habe geholfen, dass die Betroffenen die Einschränkungen durch Long Covid zunächst selbst akzeptiert sowie therapeutische Maßnahmen in Anspruch genommen haben – allerdings habe die Genesung „Zeit gebraucht.“  Nach Aussage der Virologin Ulrike Protzer klingt Long Covid tatsächlich in den allermeisten Fällen nach längerer Zeit wieder ab. Dabei ist es möglich, die Lebensqualität während dieser Zeit zu verbessern.

Hilfe bei Long- und Post-Covid

Um Betroffene, Angehörige sowie Vorgesetzte und Kolleg:innen im Arbeitsumfeld zu unterstützen, haben Psychotherapeut Martin Grabe und die Klinikseelsorgerin einige Empfehlungen zusammen gestellt:

1. Auf eine Diagnose bestehen

Klinikseelsorgerin Reimers-Gruhn ermutigt: „Lassen Sie nicht locker, bis Sie eine eindeutige Diagnose haben. Denn eine Diagnose hilft den Betroffenen selbst, ihre Einschränkungen besser zu akzeptieren. Außerdem kann sie helfen, klarer mit der Familie oder Vorgesetzten die eigene Situation zu erklären.“ Grundsätzlich hat der Arbeitgeber allerdings kein Recht, Auskunft über die Diagnose zu erhalten.
Dr. Grabe empfiehlt zunächst immer den Gang zum Hausarzt, um die richtige symptomatische Behandlung und in einzelnen Fällen auch eine Reha einzuleiten.

2. Post-COVID-Ambulanz aufsuchen

Auf Beratung, Diagnostik und Behandlung von Long COVID haben sich einige Kliniken und Praxen in Deutschland spezialisiert. Ein Bürgertelefon bietet zudem erste Informationen.
zur Klinik- und Praxensuche +Bürgertelefon

3. Einschränkungen akzeptieren

Laut Chefarzt Grabe ist es anfangs wichtig, sich zuzugestehen, dass man eine Long-Covid-Erkrankung habe. Er ermutigt Betroffene, zu den eigenen Belastungsgrenzen zu stehen und sie angemessen zu vertreten. Martin Grabe ermutigt: „Wir sollen aufhören zu denken: Als krankgeschriebener Patient leiste ich 0 Prozent, als Gesunder bin ich zu 100 Prozent voll belastbar. Als Long-Covid-Patient bin ich vielleicht zu 60 Prozent leistungsfähig, auch damit leiste ich einen sinnvollen Beitrag für persönliche Beziehungen und die Gesellschaft.“ Pfarrerin Reimers-Gruhn stimmt zu und rät „gnädig mit sich zu sein.“ 

4.  Unangenehme Gefühle wahrnehmen und darüber sprechen

„Wenn jemand nach dem Wäscheaufhängen traurig darüber ist, dass er fix und fertig ist, ist das ein ganz natürliches Gefühl“, berichtet die Seelsorgerin. Unangenehme Gefühle sollten nicht weggedrückt werden. Die Traurigkeit über die geringe Kraft sollte wahrgenommen werden. In der Klinik erlebt sie, wie entlastend es für die Betroffenen ist, wenn sie mit ihr auch über schwierige Empfindungen sprechen können. Die Seelsorgerin ermutigt: „Auch vor Ort in vielen evangelischen Kirchengemeinden kenne ich Pfarrer:innen, die sehr offen für ein seelsorgerliches Gespräch sind.“ Zudem finden Betroffene Ansprechpartner:innen in den psychologischen Beratungsstellen der EKHN.
zu psychologischen und seelsorgerlichen Ansprechpartner:innen

5. Kraft aus Glaubenserfahrungen

Klinikseelsorgerin Reimers-Gruhn erfährt immer wieder, dass auch der christliche Glaube in schwierigen Momenten neue Zuversicht gibt. So vermittelt sie einem Erkrankten, dass auch er ein „von Gott angenommenes und geliebtes Kind ist.“ Sie hat auch erlebt, wie die Worte aus dem Glaubensbekenntnis des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer stärken können. Sie lauten: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ Vor allem hilft die Pfarrerin den Menschen dabei, dass sie selbst Stärkendes entdecken und auf ihre eigene Art mit einer Krise umgehen.

6.  Aufmerksamkeit auf Positives lenken, aktiv werden

„Selbst wenn man schnell erschöpft ist, kann man noch vieles machen, das einem gut tut: Lesen, Musik hören, kleine Spaziergänge, zwei leichte Gymnastikübungen oder die Schönheit einer Blume bewundern“, rät Klinikseelsorgerin Jutta Reimers-Gruhn. Und wenn jemand sich nach einer Anstrengung ausruhe, habe das nichts mit Faulheit zu tun – hier sei der Begriff aus der Jugendsprache angemessen, schmunzelt sie: „Genießen Sie das Chillen!“ Sie empfiehlt, das Beste aus der Situation zu machen.

7. Eigene Selbstansprüche reflektieren

Einigen Betroffenen fällt es sehr schwer, die Einschränkungen durch die Erkrankung zu akzeptieren. Psychotherapeut Grabe erklärt: „Hinter hohen Selbstansprüchen stecken meist frühkindlichen Ursachen. Musste jemand früh Verantwortung für Geschwister übernehmen? Oder hat er Freundlichkeit und Aufmerksamkeit der Eltern nur über Leistung erreicht? Was sind die eigenen, inneren Antreiber?“ Dr. Grabe ermutigt Betroffene, sich dagegen zur Wehr zur setzen. Er weiß aber auch: „Wenn jemand bewusst eine Aufgabe ablehnt, empfindet er es zunächst als unangenehm. Auch Schuldgefühle können auftauchen, mit denen man sich auseinandersetzen muss.“ Diese Hürden gelte es zu überwinden und zu lernen, seine Interessen angemessen zu vertreten.

8. Entlastung und Hilfe organisieren

Bis zur Covid-Erkrankung war es für manche selbstverständlich, die alten Eltern zu pflegen oder die Kinder nachmittags in Sport- und Musikstunden zu bringen. Durch Long Covid kann die bisherige Aufteilung der Aufgaben an Grenzen geraten. Deshalb empfiehlt Martin Grabe: „Am besten, Sie organisieren mit der Familie gemeinsam möglichst frühzeitig Zwischenlösungen. Ab jetzt sollten die Punkte auf der ToDo-Liste für Erkrankte deutlich gestrichen werden. Es geht darum, in der Familie, eine neue Balance zu finden.“ Allerdings müssten sich auch hier Betroffene darauf einstellen, sich mit ihren Selbstansprüchen und möglichen Schuldgefühlen auseinander zu setzen.

9. Im Job: Kommunikationsstrategie mit der oder dem Vorgesetzten

Bislang sind Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeberinnen davon ausgegangen: Entweder ist jemand krankgeschrieben oder gesund im Job und damit voll belastbar. Bei Long- oder Post-Covid seien Mittelwege gefragt. Martin Grabe ermutigt, sich nicht über die Maßen krankschreiben zu lassen. Unglücklich zu Hause zu verweilen, sei auch kein Königsweg. Stattdessen empfiehlt er: „Gehen Sie mit erhobenen Haupt zur Arbeit, auch wenn Sie nicht voll belastbar sind. Stehen Sie zu Ihren Grenzen.“ Doch Martin Grabe hat immer wieder erlebt, dass Mitarbeitende das Gefühl haben, sie dürften ihren Vorgesetzten nicht sagen, dass sie belastungsmäßig „am Anschlag“ seien. Sie fürchten, dass das als Schwäche gedeutet werden könnte. Deshalb warnt er: „Falls absehbar ist, dass eine Aufgabe nicht erledigt werden kann, wäre es falsch, nichts zu sagen und den Chef in Gewissheit zu wiegen, nächste Woche werde alles fertig. Das kann letztlich zu größeren Konflikten führen.“ Deshalb sei es umso wichtiger, der oder dem Vorgesetzten frühzeitig mitzuteilen, was selbst geleistet werden kann und wo neue Grenzen durch Long Covid entstanden sind. Dabei rät er zu Diplomatie und zu dieser Kommunikationsstrategie:

  • die oder den Chef:in sachlich über die persönliche Situation mit Long Covid informieren,
  • die zu erledigenden Aufgaben benennen,
  • die dafür benötigte Zeit aufzeigen,
  • evtl. Alternativen aufzeigen; beispielsweise: Wenn dieses Projekt vorgezogen werden muss, muss etwas anderes weggelassen werden. 

Häufige Long-Covid-Symptome

Neben der Haupterkrankung wird bei einigen Patienten im Krankenhaus auch Long-Covid diagnostiziert. Andere leiden unter schweren Folgeerkrankungen wie Herzproblemen. Dr. Martin Grabe, Chefarzt in der Klinik Hohemark, erlebt immer wieder, dass Patient:innen mit den Folgen einer Corona-Infektion kämpfen. Der Mediziner und Psychotherapeut nennt die häufigsten, möglichen Symptome von Long- oder Post-Covid-Erkrankten:

  • Erschöpfung
  • Müdigkeit
  • Neuro-kognitive Störungen (z.B. Konzentrationsschwäche)
  • Atembeschwerden
  • Brustschmerzen
  • Herzrhythmusstörungen
  • Schmerzsyndrome (Glieder-, Muskel-, Gelenkschmerzen)
  • Sensorische Störungen (Geruchs-, Geschmacks-, Hörstörungen)

Betroffene leiden dabei unter einer diffusen Symptomsammlung, bei manchen stehe die Atemnot im Vordergrund, andere klagen stärker über Konzentrationsschwäche. Zudem klärt Martin Grabe über die Begriffe auf: „Wenn die Beschwerden länger als vier Wochen dauern, spricht man von Long Covid; ist ein Patient mehr als zwölf Wochen betroffen, handelt es sich um Post-Covid.“

Empfehlungen für Vorgesetzte

Vorgesetzte sollten sich aufgrund der hohen Zahl an Long- oder Post-Covid-Erkrankten darauf einstellen, dass auch eigene Mitarbeitende davon betroffen sein können. „Wenn jemand schnell ermüdet, weil er von Post-Covid betroffen ist, ist das keine Arbeitsverweigerung“, verdeutlicht Martin Grabe. Mitarbeitende sollten nicht gezwungen werden, nach außen „den Taffen abzugeben“ und Einschränkungen zu kaschieren. Deshalb sei es wichtig, sich über die Symptome zu informieren den betroffenen Mitarbeitenden ein Gespräch anzubieten. Dabei sei die Herausforderung nachzuvollziehen, dass ein Mitarbeiter nicht nur nach 4 Wochen, sondern auch nach über zwölf Wochen und länger schnell ermüden könne. Grabe ermutigt zu einem „ehrlichem und lebendigen Gespräch auf Vertrauensebene.“

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